Lange Tangonacht Südwestfunk
Das folgende Interview gab Lothar Hensel anläßlich der Langen Tangonacht 1997 im Südwestfunk (SWF). Es beschreibt anschaulich den Stil, den Lothar Hensel zusammen mit seinem Quartett tango fusión entwickelt hat:
SWF: Die vier Solisten von tango fusión wollen den traditionellen Tango nicht orginalgetreu nachahmen.
L.H.: Wir fangen mit tango fusión zu einem Zeitpunkt an, als schon 100 Jahre Tangogeschichte vergangen sind. Was wir machen, wäre in den 20er Jahren nicht vorstellbar gewesen. Damals begann sich der Tango zu entwickeln, in den 30er bis 50er Jahren folgte die große Zeit der Orchester, und erst dann kamen die Einflüsse von Piazzolla und seinen Kollegen. In diesem Zusammenhang muß man darauf hinweisen, daß Piazzolla nicht der einzige Erneuerer war. Er war der kreativste, potenteste und vielleicht auch der fleißigste. Er hat unglaublich viele Werke hinterlassen, aber er war Teil einer Gesamtströmung.
SWF: Mit dem Hintergrund europäischer Kammermusik haben sich die Musiker in den Tango vertieft. Zur ursprünglichen Besetzung Violine, Kontrabaß und Bandoneón haben sie das Violoncello dazu genommen, das neue aparte Akzente setzt. Sie haben Arrangements geschrieben und studiert, spielen Kompositionen der 50er Jahre und späterer Jahrzehnte. Die Problematik des Tango liegt darin, daß er komponiert und nicht improvisiert, aber viel davon abhängt, daß man sich in seine Aufführungspraxis einarbeitet.
L.H.: Diese Tangos sind alle komponiert. Im Tango gibt es fast nichts improvisiertes. Wenn ein Tangoorchester spielt, ist vorher eine Partitur ausgearbeitet worden. Da steht: 1. Violine, 2. Violine... Alles wird ausarrangiert, und arrangieren heiß in diesem Zusammenhang komponieren. Es wird oft wie beim Jazz ein traditionelles, schon bekanntes Thema genommen, das dann völlig umgeformt wird. Wenn man z.B. die Kompositionen nähme, die Piazzolla geschrieben hat und ließe sie von einem klassischen Musiker spielen, dann würde das nach nichts klingen. Es wäre alles mögliche aber kein Tango. Was bei Piazzolla und anderen Komponisten mitkomponiert ist, steht zwischen den Zeilen. D.h. wie man die Stücke artikuliert, den Rhythmus markiert usw..
SWF: Sie haben das Ensemble tango fusión vor einigen Jahren gegründet...
L.H.: Die Idee war, Kammermusik und argentinischen Tango miteinanderzuverschmelzen. Deswegen auch der Name fusión. Das hat nichts mit dem Jazzbegriff "fusion" zu tun. Gemeint ist eher, daß wir unsere eigene Traditon, mit der wir aufgewachsen sind und in der wir ausgebildet wurden, mit dieser argentinischen Musik verbinden wollen. Was erreicht werden soll, ist, die Ausdrucks- und Musizierformen der Kammermusik, - die vom Zuhörer geforderte Konzentration und die sehr ausgeglichene Art der Kommunikation zwischen den Musikern - mit anderen Inhalten zu füllen. Man nimmt nicht klassische Musik, keinen Beethoven oder Mozart, sondern Tangos.
SWF: Offenbar fehlen in der klassischen europäischen Musik gewisse Elemente, die nur in der Musik einer anderen Kultur gefunden werden können.
L.H.: Tango erfordert eine große innere Anteilnahme. Eine Ehrlichkeit und Suche: Was sagt mir das? Im normalen europäischen Musikbetrieb ist dafür nicht viel Platz. Das wird auch nicht erwartet. Man spielt die bekannten Werke, je perfekter desto besser. Und das war es dann oft. Auch das Museale gefällt mir nicht. Nehmen wir ein Beispiel: Ein Streichquartett muß immer Mozart, Brahms usw. spielen. Das wird erwartet und gemacht. Man hört sich das an, wie man sich ein schönes Bild anschaut, wird aber wenig in die Musik hineingezogen, denn die Musik wird nur dargeboten. Und das ist beim Tango anders.